Interviewleitfäden zur Klassifikation
Dorothea König
Inhalt:
Klassifikatorische DiagnostikDie klassifikatorische Diagnostik versucht, die durch die Diagnostiker verursachten Fehlerquellen und Varianzen der klinischen Urteilsbildung zu minimieren. Die empirische Bewährung der Klassifikationssysteme soll durch stärkere Operationalisierung, Verbesserung der Klassenbildung und durch Verzicht auf nicht nachweisbare Konstrukte erhöht werden. Zur umfassenden klassifikatorischen Diagnosestellung liegen eine Reihe von erprobten Verfahren vor, die sich an ICD-10 und/oder DSM-IV (oder deren Vorgängern) orientieren. Folgende Gruppen von Verfahren werden in der klinischen Praxis zur Absicherung der klinischen Urteilsbildung eingesetzt:
Klinische Interviews stellen also Instrumente zur Klassifikation oder Diagnosestellung psychischer Störungen dar. Unter den strukturierten Interviewverfahren zählen das SKID und das DIPS zu den am besten erprobten (und bekanntesten) Methoden:
Da das DSM-IV die Grundlage der klinischen Interviews SKID und DIPS bildet, soll nun näher auf dieses eingegangen werden.
DSM-IVDie American Psychiatric Association (APA) veröffentlichte 1952 erstmals das Klassifikationssystem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). 1980 erschien das DSM-III und 1987 das DSM-III-R. Das DSM-IV (1994; deutsch: Saß et al., 1996) ist die heute gültige Version. Während die International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death (ICD der WHO; aktuelle Version: ICD-10, 1991) ein operationalisiertes Diagnosesystem für alle Erkrankungen und Todesarten ist (Kapitel F für psychische Störungen mit 10 Hauptgruppen und 398 Störungsdiagnosen), gilt das DSM ausschließlich für psychische Störungen. Im Manual des DSM-IV wird betont, dass nicht Menschen, sondern Störungen der Menschen klassifiziert werden. Eine psychische Störung wird als Funktionsstörung des Individuums verstanden. Ein maßgebliches Kriterium für fast alle Störungen ist, dass die Störung in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursacht. Das DSM-IV enthält 16 diagnostische Hauptgruppen und ein zusätzliches Kapitel über "andere klinisch relevante Probleme". Zur Bestimmung von 395 Störungen werden insgesamt etwa 1000 Kriterien herangezogen. Die Codierung der Diagnosen erfolgt mittels einer fünfstelligen Zahlenfolge. Innerhalb einer Diagnose können zusätzlich weitere Subtypen und Zusatzcodierungen angegeben werden. Die Vergabe multipler Diagnosen (Komorbidität) ist möglich. Das DSM-IV stellt ein multiaxionales System dar, welches die psychischen Störungen auf fünf Achsen beschreibt; folgende fünf Achsen gelten als diagnostische Beurteilungsgesichtspunkte:
Die ersten vier Achsen sind typologisch aufgebaut; das Funktionsniveau auf Achse V wird dimensional auf einer Skala von 0 bis 100 beurteilt (100 = Höchstgrad der Funktionsfähigkeit, Symptomfreiheit). Die Lokalisierung von Klinischen Störungen (Achse I) und Persönlichkeitsstörungen (Achse II) auf zwei separaten Achsen soll verhindern, dass unangepasste Persönlichkeitsauffälligkeiten, Abwehrmechanismen und geistige Behinderungen übersehen werden, auch wenn die klinischen Erscheinungen meist im Vordergrund stehen und besonders beachtet werden. Die einzelnen Störungen werden im Manual detailliert beschrieben und nach folgenden Aspekten systematisch dargestellt:
Kritik, die den beiden Systemen DSM und ICD entgegengebracht wird, bezieht sich auf Folgendes: Klassifikationssysteme fördern ein "Kriteriendenken"; mit der starken Operationalisierung der Klassifikationen wird der Anschein erweckt, dass ein weiteres Hintergrundwissen über die Störungen nicht mehr erforderlich ist. Zudem muss man sich über die Möglichkeiten und Grenzen der standardisierten Untersuchungssysteme im Klaren sein. Die Operationalisierung hat zur Verarmung der sprachlichen Schilderung von pathopsychologischen Erscheinungen geführt; so gehen Anschaulichkeit und Eindrücklichkeit verloren.
SKID Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IVDas SKID ist ein strukturiertes Interviewverfahren zur Diagnostik psychischer Störungen nach DSM-IV. Die Anwendung des SKID setzt klinisch-psychiatrische Erfahrungen, die Kenntnis des Klassifikationsmanuals und ein zweitägiges Training voraus. Das SKID liegt in zwei getrennten Fassungen vor:
Das SKID-I beginnt mit einem wenig strukturierten Teil der Exploration, in welchem allgemeine Informationen über den Patienten erhoben werden. Mittels eines kurzen Explorationsleitfadens wird ein Überblick über derzeitige und frühere Beschwerden bzw. Symptome des Patienten gewonnen; dies kann für eine bessere Bewertung und Kodierung der in den folgenden Sektionen erhobenen Informationen hilfreich sein. Anschließend wird das strukturierte Interview durchgeführt. Dabei durchläuft der Interviewer die Sektionen A bis J, die jeweils Fragen zu verschiedenen Störungen enthalten. Nach eindeutig formulierten diagnostischen Kriterien werden folgende Sektionen bzw. Störungen erfasst:
Anhand der Antworten auf die Fragen überprüft der Interviewer, ob ein diagnostisches Kriterium erfüllt ist; je nach Antwort findet er einen Verweis zu den nächsten Fragen.
Um jedes Störungsbild abzuklären, sollten alle Sektionen durchgegangen werden. Der Interviewer gelangt schließlich nach dem Ausschlussverfahren zu einer Diagnose nach DSM-IV. Im Anschluss an das strukturierte Interview wird eine Skala zur globalen Erfassung des Funktionsniveaus (Achse V) vorgegeben, anhand derer die derzeitige psychische, soziale und berufliche Beeinträchtigung beurteilt werden soll. Zusätzlich sollen evt. zu beachtende körperliche Erkrankungen (Achse III), die Achse I-Hauptdiagnose und der Sicherheitsgrad der diagnostischen Entscheidung angegeben werden. Persönlichkeitsstörungen nach Kriterien des DSM-IV werden mittels SKID-II diagnostiziert. SKID-II enthält einen Fragebogenteil zur Selbstbeurteilung, der die Grundlage für den Interviewteil darstellt.
DIPS Diagnostisches Interview bei psychischen StörungenDas DIPS ist ein strukturiertes Interviewverfahren, welches eine klassifikatorische Einordnung psychischer Störungen sowie das Erfassen von für die psycho- und verhaltenstherapeutische Behandlung relevanten Informationen ermöglicht. Das DIPS bietet also eine Kombination von klassifikatorischer und therapiebezogener Diagnostik psychischer Störungen. Das DIPS konzentriert sich auf Angststörungen, affektive Störungen, somatoforme Störungen und Essstörungen sowie auf ein Screening für substanzabhängige Störungen, körperliche Erkrankungen und psychotische Störungen. Vor dem eigentlichen Interview wird ein Überblick über demographische Daten des Patienten (Ausbildung, berufliche Entwicklung, Religion, Kinder, Familienstand) gewonnen. Das Interview beginnt mit einer kurzen Einführung und einer Erklärung des Zwecks des Interviews, wobei zunächst eine knappe Beschreibung des Vorstellungsgrunds erfasst werden sollte. Anschließend werden Fragen zu folgenden Problembereichen gestellt:
Am Anfang jedes Störungsabschnitts wird eine allgemeine Eingangsfrage gestellt; diese soll dem Interviewer einen ersten Eindruck über das Vorliegen des jeweiligen Störungsbildes vermitteln. Am Ende jedes Abschnitts schätzt der Interviewer die Beeinträchtigung durch die jeweilige Störung auf einer fünfstufigen Skala ein. Nach Beendigung des Interviews nimmt der Interviewer die Kodierung der Diagnosekriterien jeder Störung vor. Zusätzlich werden Angaben zu geistigem Zustand und Interviewverhalten des Patienten notiert. Der Interviewer sollte eine "erzählende Zusammenfassung" schreiben. Schließlich sollte der Interviewer das Blatt "Klinische Einschätzungen und Diagnosen" ausfüllen: Es können auch zwei Primärdiagnosen gegeben werden. Der Schweregrad jeder Diagnose wird auf einer Skala von 0 bis 8 eingeschätzt (0 = abwesend / keine Störung, 2 = leicht, 4 = mäßig, 6 = ausgeprägt, 8 = schwer). Bei der DSM-III-R Diagnose werden primäre Diagnose und zusätzliche Diagnosen jeweils mit ihrem Schweregrad auf der entsprechenden Achse angegeben; auch die Achsen IV und V können eingeschätzt werden. Der Interviewer soll die Sicherheit, mit der er die Diagnose stellt, auf einer Skala von 0 bis 100 beurteilen.
Literatur
Bastine, R. H. E. (1998). Klinische Psychologie. Band 1: Grundlegung der Allgemeinen Klinischen Psychologie (3., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
© Dorothea König, 2002
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