Die Entwicklung des Kindes zwischen
fünf und sieben Jahren

 

Dorothea König

 

Seminararbeit im Rahmen des Proseminars "Spezialprobleme der Differentiellen Psychologie:
Schulleistungsschwierigkeiten" (Mag. R. Czasch) am Institut für Psychologie der Universität Wien, SS 2000

 


 

Inhalt:


1. Einleitung

2. Die körperliche und psychische Entwicklung

3. Die Entwicklung des kindlichen Spiels

4. Die Entwicklung von Sprache und Sprachverständnis

5. Die Bedeutung des Kindergartens für die Entwicklungdes Kindes

6. Die Entwicklung des Denkens nach Piaget

7. Die Förderung der kindlichen Kreativität

8. Die Entwicklung zur Schulbereitschaft und Schulfähigkeit

9. Literaturverzeichnis

 

 

1. Einleitung


In der entwicklungspsychologischen Fachliteratur findet man Angaben, mit welchem Alter sich bestimmte Entwicklungsschritte vollziehen. Diese sind jedoch nicht für jedes Kind in gleicher Weise gültig, sondern dienen vielmehr als allgemeine Richtlinien. So ist jedes Kind individuell zu betrachten, da es die verschiedensten Fähigkeiten mehr oder weniger rasch entwickelt. Dennoch ist es sehr wichtig, über die einzelnen Entwicklungsschritte des Kindes Bescheid zu wissen, um dem Kind so viel Verständnis wie möglich entgegenbringen zu können, und um zu verhindern, dass es über- bzw. unterfordert wird. Derartige Kenntnisse ermöglichen eine optimale Förderung für das Kind bis hin zum Jugendalter.

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2. Die körperliche und psychische Entwicklung


"Das Alter zwischen fünfeinhalb und sechseinhalb Jahren wird in der Entwicklungspsychologie als das Alter des ersten Gestaltwandels beschrieben" (Bröder & Hilbich, 1997, S. 19). Mit Gestaltwandel ist die körperliche Veränderung des Kindes gemeint. Die Extremitäten beginnen verstärkt zu wachsen, der Rumpf wird schlanker und gestreckter, die Taille bildet sich aus, der kleinkindhafte Bauch wird flacher, die Muskeln treten stärker hervor und die Schulterbreite nimmt zu. Das Kind erscheint insgesamt länger und schlanker. Auch das Gesicht des Kindes beginnt sich zu verändern: Mittel- und Untergesicht wachsen, wodurch die Stirn kleiner als zuvor wirkt. In diesem Alter fallen die ersten Milchzähne aus, und das endgültige Gebiss formt sich allmählich. Aus diesem ersten Gestaltwandel des Kindes geht schließlich die "Schulkindform" hervor (vgl. Mietzel, 1997).

Parallel zu dem körperlichen Gestaltwandel in diesem Alter vollziehen sich auch tiefgreifende seelische Veränderungen. Der psychische Zustand der Kinder ist häufig labil, sie neigen zu starken Stimmungsschwankungen, entladen ihre Gefühle manchmal explosiv und akzeptieren seltener vernünftige Argumente. Sechsjährige Kinder wirken oft desorientiert und können sich nur schwer für etwas entscheiden oder zu einer Meinung durchringen. Es fällt ihnen nicht leicht, sich mit Dingen länger zu beschäftigen, weil sie nicht viel Geduld und Ausdauer aufbringen können. Kinder in diesem Alter langweilen sich häufig, da ihnen die Spiele, die sie früher begeisterten, keine Freude mehr bereiten; an die Stelle der alten Aktivitäten sind jedoch noch keine neuen getreten. So befinden sich die Kinder in einer schwierigen Übergangsphase zwischen Klein- und Großkind.
Diese Zeit ist auch eine Loslösungsphase, in der sich die Bindung an die Eltern und Geschwister etwas lockert. Diese Bezugspersonen reichen den Kindern nicht mehr; deshalb möchten sie nun verstärkt Kontakt zu anderen aufnehmen. Die Beziehung zu den jüngeren Geschwistern kann sich verschlechtern, da sie die Kleineren häufig tyrannisieren und bevormunden. Die Kinder streben nach mehr Eigenständigkeit und Selbständigkeit; dennoch sehnen sie sich gleichzeitig nach Liebe und Geborgenheit in der Familie.
Die Verhaltensweisen in dieser Phase sind Ausdruck eines Reifungsprozesses, den die Kinder für die Entwicklung der eigenen Identität benötigen, bei dem sie aber auch besonders auf das Verständnis der Erwachsenen angewiesen sind (vgl. Bröder & Hilbich, 1997).

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3. Die Entwicklung des kindlichen Spiels


Das Spiel stellt für das Kind die wichtigste Form der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt dar (Bröder & Hilbich, 1997). Es geht im Spiel nicht darum, die Wirklichkeit möglichst exakt nachzustellen; der Sinn des Spiels liegt vielmehr im Spiel selbst. Im Spiel haben die Kinder die Möglichkeit, ihrer Existenz eine persönliche Bedeutung zu geben; sie können die Welt ihrem Wissen, ihren Vorstellungen und Wünschen entsprechend gestalten und verständlich machen. Das Geschehen in der Spielrealität ist zwar eine eingebildete Situation, wird aber dennoch von den Kindern emotional als real erlebt (vgl. Bürki, 1998). Im Spiel zeigen die Kinder, was sie momentan bewegt und für sie relevant ist; so verarbeiten sie im Spiel Erlebnisse und Inhalte, die für sie wichtig sind (Bröder & Hilbich, 1997). Die Kinder können beim Spiel ihre Persönlichkeit entfalten und einbringen. Durch das Spielen wird die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten gefördert, die wiederum selbst Voraussetzung für weitere Entwicklungsschritte im Spiel sind (vgl. Bürki, 1998).
"In Symbol- und Rollenspielen haben Kinder die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von der Welt aufzubauen und menschliche Interaktionen, Handlungen und Charaktere kennen- und verstehenzulernen" (Bürki, 1998, S. 16).

Das Symbolspiel ist eine selbstbezogene Spielform, in der individuelle Vorstellungen und innerpsychische Vorgänge ausgedrückt und symbolisiert werden. Es besteht noch keine Absprache zwischen den Spielenden, die Kinder spielen alleine oder nebeneinander. Die Sozialisierung des Kindes zwischen drei und sieben Jahren wirkt sich auch auf das Spiel und die Sprache aus; so entwickeln sich die symbolischen Spielhandlungen ab etwa fünf Jahren zu Rollenspielen (vgl. Bürki, 1998).

Im Unterschied zum Symbolspiel treten beim Rollenspiel, das von älteren Kindern bevorzugt wird, zwei oder mehrere Kinder miteinander sprachlich-handelnd in Kontakt und inszenieren eine Episode (Peter, 1998). Die Kinder stimmen die Spielaktivitäten mehr oder weniger aufeinander ab und bauen gemeinsame Vorstellungen auf. Dabei schlüpfen Kinder ab etwa fünf Jahren bewusst in die Rolle einer anderen Person und agieren als diese; dies setzt voraus, dass das Kind eine klare Vorstellung von sich selbst als eigenständige Persönlichkeit verinnerlicht hat (vgl. Bürki, 1998). "Die Fähigkeit zur Rollenübernahme im Spiel entwickelt sich komplementär zum Abbau des kindlichen Egozentrismus" (Bürki, 1998, S. 20). Das Kind ist nun in der Lage, sich in eine andere Person zu versetzen und sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen. Mit fünf Jahren ist es den meisten Kindern möglich, eine soziale Rolle zu übernehmen und die gespielten Handlungen und Verhaltensweisen mit einer komplementären Rolle zu verbinden (zum Beispiel Arzt und Patient). Sechsjährige können einem Akteur gleichzeitig verschiedene Rollen zuweisen (vgl. Bürki, 1998).
Die Fähigkeit zur Rollenübernahme ist Ausdruck der Dezentrierung vom Selbst. Durch den Dezentrierungsprozess können sich die Kinder immer leichter auf mehreren Handlungs- und Kommunikationsebenen bewegen. Sie sind in der Lage, im Spiel verschiedene Rollen zu beachten, zwischen erdachten und realen Rollen bzw. Handlungen zu unterscheiden und ihre Aktivitäten mit denen der Spielpartner bezüglich des vorgestellten Spielthemas zu koordinieren (vgl. Bürki, 1998).
Die Dekontextualisierung im Spiel stellt die Voraussetzung für die Entwicklung von Phantasiespielen dar und ergibt sich gleichzeitig aus der Spieltätigkeit. Das Kind kann nun den Gegenstand bzw. die Handlung von der Bedeutung trennen. Sein Spielverhalten ist nicht mehr so stark von vorhandenen Materialien abhängig, sondern richtet sich auch nach vorgestellten Objekten; verinnerlichte Handlungen können nur gedacht und müssen nicht unbedingt ausgeführt werden. Die zunehmende Kontextunabhängigkeit beim Gestalten fiktiver Spielaktivitäten weist auf den Aufbau kognitiver Strukturen hin. Scripts sind Repräsentationen alltäglicher Handlungsabläufe im Gedächtnis bzw. in der Erinnerung. Die Kinder sind fähig, einzelne Tätigkeiten in der Vorstellung miteinander zu verknüpfen und so die Spielhandlungen und Interaktionen mit den Spielpartnern zu strukturieren. Bei Kindern ab etwa fünf Jahren rückt das Planen der Abfolge einzelner Handlungen im Phantasiespiel immer mehr in den Vordergrund; auf der Basis des individuellen Script-Wissens können die Kinder gemeinsame Vorstellungen von einem geplanten Rollenspiel aufbauen (vgl. Bürki, 1998).
Gegenstände werden vor allem als Hilfsmittel beim Ausgestalten der Rollen verwendet; im Spiel können fehlende Dinge durch etwas anderes ersetzt, aber auch vorhandene Requisiten umfunktioniert und umgewandelt werden. Bei Kindern ab fünf Jahren führt realitätsfernes, wenig prototypisches Material zu phantasievollerem Spiel. Spielaktivitäten werden zunehmend unabhängiger von bestimmten Gegenständen realisiert, weil Ideen für die Handlungen ausschlaggebend sind. Spielideen basieren auf Scripts für die Ausgestaltung fiktiver Spielformen und können auf der Handlungsebene beliebig ausdifferenziert werden. Das Spiel mit Gegenständen rückt immer mehr in den Hintergrund und wird durch die soziale Interaktion ersetzt. Für das Kind wird das Gestalten sozialer Beziehungen bedeutender (vgl. Bürki, 1998).

Im Symbol- und Rollenspiel werden auch irreale Handlungen vollzogen; dadurch fördern diese Spielformen die Flexibilität und Kreativität, die für die Entwicklung der kindlichen Phantasie wichtig sind. Durch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel können die Kinder im Spiel zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Das Hin- und Herpendeln zwischen realer Situation, Phantasiespielhandlung und Metakommunikation (Gespräche über das Spiel) erfordert kognitive Flexibilität der Kinder, die im Spiel ständig geübt wird (vgl. Bürki, 1998).

Neben den Rollenspielen werden für die Kinder Regelspiele zunehmend interessanter (Ballspiele, Memory etc.). Die Kinder spielen immer häufiger in größeren Gruppen, wodurch feste Regeln notwendig werden. Regelspiele lassen wenig Raum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten (Bröder & Hilbich, 1997), sind aber wichtig, um zum Beispiel den richtigen Umgang mit Erfolg und Misserfolg zu erlernen.

Bei Sechsjährigen sind Konstruktionsspiele sehr beliebt (Lego, Bausteine etc.); die Kinder möchten nun bestimmte Vorhaben zielgerichtet verwirklichen (Bröder & Hilbich, 1997).

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4. Die Entwicklung von Sprache und Sprachverständnis


Parallel zum "Miteinander-Spielen" setzt auch das "Miteinander-Sprechen" ein. Voraussetzung für den Dezentrierungsprozess des Kindes ist die Fähigkeit, Fiktion im Spiel mittels Sprache auszudrücken. Im Verlauf des Vorschulalters wird die Wechselwirkung zwischen Spiel und Sprache immer komplexer, so dass das Phantasiespiel schließlich ein Sozialspiel darstellt (vgl. Bürki, 1998). Die Sprache ist das wichtigste Mittel der Kommunikation. Sie unterstützt die kognitive und soziale Entwicklung des Kindes. Dieses braucht die Sprache, um ein klares und geordnetes Weltbild aufzubauen. In diesem Sinne hat die Sprache die Funktion eines Entwicklungsmotors, der die Sozialisation von Vorschulkindern unterstützt und fördert (vgl. Peter, 1998).

Bis zum vierten Lebensjahr ist das Sprachverständnis stark situationsbezogen und mit Handlungen des Kindes verbunden. Erst wenn die Kinder beginnen, die Syntax in den Verstehensprozess einzubeziehen, lassen sie Handlungen vermehrt weg (vgl. Mathieu, 1998). Das fünfjährige Kind ist in der Lage, längere Sätze mit unterschiedlichen Wortarten in der richtigen Reihenfolge zu bilden (Krenz & Rönnau, 1997). Es kann seine Wünsche äußern, Vorschläge machen und Fragen stellen. Es beginnt, die Regeln der Grammatik zu begreifen und so die Inhalte der Sätze korrekt zu interpretieren. Nachdem das Kind etwa seit dem vierten Lebensjahr die Plural- und Zeitformen gebraucht, kann es ab dem fünften Lebensjahr Nebensätze und Passivsätze einfacherer Strukturen erfassen. Das Verständnis komplexerer Satzstrukturen setzt einen wesentlichen Entwicklungsschritt des Kindes voraus. Es verlangt die Fähigkeit zur zeitlichen und formalen Umkehrung. Als Beispiel eines Satzes, der derartige Anforderungen stellt, sei ein "bevor"-Satz angeführt: "Bevor ich in den Zug steige, kaufe ich eine Zeitung." Hier wird sprachlich etwas zuerst genannt, was zeitlich später eintritt. Die Fähigkeit zur Reversibilität, die eine größere Dezentrierung verlangt, wird erst im konkret-operationalen Stadium ab sechs bis acht Jahren erreicht. Zu Beginn der Schulzeit hat das Kind ein zusammenhängendes Sprachverständnis entwickelt und kann zusammenhängende Geschehen erfassen; zu Äußerungen werden Vorstellungen aufgebaut, die wiederum durch neue Informationen angepasst und verändert werden (vgl. Mathieu, 1998). Die meisten Kinder haben mit etwa sechs Jahren das Konzept von Ober- und Unterbegriffen, von einander einschließenden, einander ausschließenden und teilweise überlappenden Kategorien verstanden (Rossmann, 1996).

Zu Beginn der Schulzeit haben die Kinder im Durchschnitt einen aktiven Wortschatz von ungefähr 2.500 Wörtern, während sie bereits etwa 13.000 Wörter verstehen (Rossmann, 1996). Die Sprachentwicklung und der Umfang des Wortschatzes sind in engem Zusammenhang mit dem häuslichen Milieu und der sozialen Schicht des Kindes zu sehen. Oftmals gibt es große Unterschiede in Aussprache und Wortmelodie zwischen der zu Hause gesprochenen und in Kindergarten oder Schule erlernten Sprache. Die Kinder können zwischen Dialekt und Hochsprache unterscheiden. Bei Kindern aus sozial niedrigeren Schichten macht sich oft ein Entwicklungsrückstand bezüglich Wortschatz, Wort- und Lautdifferenzierung, Artikulation und Häufigkeit der sprachlichen Äußerungen bemerkbar; dadurch ergeben sich für diese Kinder schlechtere Startbedingungen bei Schuleintritt (vgl. Krenz & Rönnau, 1997).

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5. Die Bedeutung des Kindergartens für die Entwicklungdes Kindes


Viele Kinder müssen den ganzen Tag im Kindergarten verbringen. Sie sollen sich hier wohlfühlen und ein zweites Zuhause finden. Der Kindergarten bietet den Kindern, die heute oft in beengten Wohnverhältnissen leben, genügend Freiraum für kindgemäßes Spielen und Handeln.

Im Kindergarten sollen die Kinder den Umgang mit anderen lernen und sich in eine Gruppe einfügen; dies ist vor allem für Einzelkinder wichtig. Damit das Zusammenleben in der Gemeinschaft funktioniert, werden Regeln aufgestellt, die manchmal mit dem Willen der Kinder nicht übereinstimmen, aber dennoch eingehalten werden müssen. Kinder brauchen Grenzen, um die Erfahrung zu machen, dass auch die Bedürfnisse der anderen ernst genommen werden müssen und ihre eigenen Anliegen nicht immer gleich erfüllt werden können (vgl. Bröder, 1997). Das tägliche Erleben der Regeln bringt die Kinder allmählich dazu, für sich selbst und auch für andere Verantwortung zu übernehmen. Besonders in altersgemischten Gruppen fühlen sich die Fünfjährigen dazu veranlasst, den Kleinen gegenüber Hilfsbereitschaft, Toleranz und Rücksichtnahme zu zeigen.

Zu Hause werden Arbeitswelt und privater Lebensbereich meist streng voneinander getrennt; die Kinder haben oft wenig Vorstellung davon, womit sich ihre Eltern im Berufsalltag beschäftigen. So kommt dem Kindergarten unter anderem auch die Aufgabe zu, den Kindern die Lebensrealität erfahrbar zu machen (vgl. Bröder, 1997).

Das letzte Jahr im Kindergarten dient auch der Schulvorbereitung. Die Kinder müssen jede Woche Arbeitsblätter erledigen. Heute ist den Erzieherinnen bewusst, dass die Bewältigung dieser Aufgaben nicht höher zu bewerten ist als das Spiel, in welchem das Kind viele Fähigkeiten erwerben, die Persönlichkeit entfalten und seine Individualität entwickeln kann.

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6. Die Entwicklung des Denkens nach Piaget


Nach dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget vollzieht sich die kognitive Entwicklung in einer bei allen Kindern etwa gleichen Abfolge. Er unterscheidet bei der Entwicklung des kindlichen Denkens verschiedene Stufen, wobei die sensumotorische Periode am Anfang steht. In dieser Phase, die von der Geburt bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres reicht, werden die Wurzeln des Denkens gelegt. In die darauffolgende präoperationale Phase fällt das vorbegrifflich-symbolische und das anschauliche Denken; diese Periode wird schließlich im siebenten Lebensjahr von der operativen Phase – mit konkreten bis zu formalen Denkoperationen – abgelöst (vgl. Rossmann, 1996).

In der präoperationalen Phase kann das Kind bereits auf der Vorstellungebene über konkrete Ereignisse nachdenken; dadurch werden die Denkprozesse immer unabhängiger von der direkten Beobachtung von Dingen und Vorgängen. Das Kind verbessert zunehmend seine Fähigkeit zum logischen Denken. Es entwickelt das "repräsentative Denken", in das Symbole und Zeichen verstärkt einbezogen werden. Das Kind ist in der Lage, ein Objekt oder Phänomen durch ein anderes zu ersetzen, es wendet die semiotische Funktion an. Die Entwicklung des repräsentativen Denkens ermöglicht den Gebrauch der Sprache. Bei der Sprache als semiotische Funktion werden Dinge durch sprachliche Zeichen repräsentiert. Nach Piaget erfolgt also das Denken vor dem Sprechen. Ausgehend von der Kenntnis, dass es für jedes Objekt einen bestimmten Namen gibt, entdeckt das Kind nun, dass es für jeden sprachlichen Begriff auch ein zugehöriges Objekt oder einen zugeordneten Vorstellungsinhalt geben muss. Dadurch lernt es, den Umkehrschluss zu gebrauchen. Die Sprache liefert somit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der kognitiven Leistungen.
Das präoperationale Denken ist stark vom Egozentrismus geprägt. So hat das Kind noch Schwierigkeiten, sich ein und dieselbe Sache aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven vorzustellen. Zudem mangelt es dem Kind an Reversibilität, so dass es die Umkehrbarkeit von Handlungen in seine Denkprozesse nur sehr schwer einbeziehen kann (vgl. Rossmann, 1996).

Mit sechs oder sieben Jahren vollzieht das Kind den Übergang zu einer qualitativ neuen Stufe der kognitiven Entwicklung. Die Kinder entdecken in dieser operativen Phase bisher unbekannte kognitive Strategien im Umgang mit konkreten Operationen und können diese auch anwenden. Im Stadium der konkreten Operationen erwirbt das Kind Fähigkeiten wie Reversibilität, Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und Bilden von Rangreihen. Es begreift nun, dass Objekte gleichzeitig mehreren Kategorien, die zueinander in logischer Beziehung stehen, angehören können. Nach Piaget ist die wichtigste in dieser Phase erworbene Fähigkeit jene der Reversibilität, da auf ihr alle anderen kognitiven Leistungen aufbauen. Durch das reversible Denken kann das Kind Handlungen in der Vorstellung umkehren und in verschiedenste Richtungen ablaufen lassen.
Auf der Stufe der konkreten Operationen stellen induktive logische Schlussfolgerungen für das Kind kein Problem mehr dar. Es ist in der Lage, aus einzelnen Beobachtungen Annahmen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Beim deduktiven logischen Schlussfolgern hat das Kind jedoch noch große Schwierigkeiten. Diese Fähigkeit wird das Kind erst ab dem elften Lebensjahr im Stadium der formalen Operationen, welches die nächste Stufe der kognitiven Entwicklung darstellt, beherrschen können (vgl. Rossmann, 1996).

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7. Die Förderung der kindlichen Kreativität


Die ersten Entwicklungsschritte der Kreativität kann man aus den Anfängen der Sprachentwicklung, dem Spielverhalten und aus den ersten Zeichen- und Formgebungsversuchen der kleinen Kinder schließen. Kreativität bezieht sich aber nicht nur auf das Erschaffen rein künstlerischer Produkte, sondern stellt auch eine wichtige Voraussetzung für die Lösung und Weiterentwicklung menschlicher und sozialer Probleme dar. Es hängt sehr stark von der Reaktion der Umwelt ab, ob bestimmte kreative Ausdrucksformen als schöpferisch oder phantasievoll angesehen werden (vgl. Krenz & Rönnau, 1997).

Es gibt eine Reihe von Merkmalen, die kreatives Verhalten ausmachen und bei denen angesetzt werden kann, um Kreativität zu fördern: Um die Spontaneität des Kindes zu steigern, sollte man ihm mit einer positiv motivierenden Haltung entgegentreten und seine individuellen Ideen respektieren. So wird das Kind ermutigt, sich unbefangen und angstfrei auszudrücken.
Der Anreiz zur Kreativität ergibt sich normalerweise dann, wenn eine Situation oder ein ungelöstes Problem als eine Herausforderung angesehen wird. Um diese anzunehmen, benötigt das Kind Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Selbstbewusstsein kann das Kind aus einem Gefühl von Geborgenheit entwickeln, durch das es zur Entfaltung der Persönlichkeit angeregt wird (vgl. Krenz & Rönnau, 1997).
Wenn man dem Kind genügend Freiraum für seine explorative Neugierde lässt, kann es die Fähigkeit zu Selbstinitiative und Selbstlernen entwickeln. Eine auf die Sache gerichtete Motivation löst beim Kind Aktivitäten aus, es kommt zum selbständigen und entdeckenden Lernen (vgl. Becker-Textor, 1998).
Für die Kreativität sind auch Kommunikation und Sensitivität von Bedeutung, wenn also das Kind bereit ist, mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen und ihr gegenüber aufgeschlossen zu sein. Die Empfindsamkeit für visuelle, akustische und taktile Reize sowie das sprachliche und nonverbale Austauschen müssen erzieherisch aufgebaut und gefördert werden.
Durch divergentes Denken und Flexibilität, das heißt durch die geistige und emotionale Beweglichkeit des Kindes, kann es sich auf neue und ungewohnte Gegebenheiten einstellen, herkömmliche Verwendungsarten von Dingen aufgeben und individuell umgestalten. So ist das Kind auch in der Lage, alternative Lösungsmöglichkeiten variabel durchzuspielen (vgl. Krenz & Rönnau, 1997).

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8. Die Entwicklung zur Schulbereitschaft und Schulfähigkeit


Da in der Schule die Leistung des Kindes ins Zentrum rückt, ist für die Entwicklung zum "schulreifen" Kind vor allem die Ausbildung verschiedener Fähigkeiten in zwei Bereichen von großer Bedeutung: Auf der einen Seite bestimmen Arbeitshaltung, Konzentration und Ausdauer die Art der Durchführung von Handlungsabläufen, andererseits setzen Leistungsmotivationen die Handlungsimpulse (vgl. Rollett, 1997).

Die Arbeitshaltungen entwickeln sich mit der verstärkten werkschaffenden Spieltätigkeit des Kindes. Die Aufmerksamkeit kann bis zur Vollendung des geplanten Werkes aufrechterhalten werden. So sind die Verlängerung der Zeitperspektiven und die Präzision der Zielstrukturen Ausdruck größerer Konzentration, zunehmender Ausdauer und wachsender Verpflichtung gegenüber selbstgestellten Aufgaben. Die Entfaltung von positiven Arbeitshaltungen wird durch konstruktives, aber einfaches Spielmaterial gefördert und durch das eigene Gelingen, die Anerkennung und das Lob der Erwachsenen bekräftigt (vgl. Schenk-Danzinger, 1987).

Im Spiel mit anderen Kindern nimmt der Wettbewerb eine immer wichtigere Rolle ein. Die Kinder beteiligen sich länger an Wettbewerbssituationen und registrieren Erfolg oder Misserfolg. Kleinere Kinder sind nicht in der Lage, Misserfolge zu ertragen und emotional zu verkraften; aber auch Sechs- bis Siebenjährigen fällt es noch sehr schwer, im Spiel zu verlieren, da dies als Minderung des Selbstwertgefühls erlebt wird. Erst mit etwa sechs Jahren können Kinder Wettbewerb und mit einem (älteren) Partner abwechselndes Spiel verbinden (vgl. Schenk-Danzinger, 1987).

Gegen Ende des fünften Lebensjahres verfügen die Kinder über ein Anspruchsniveau, welches ihnen ermöglicht, aus Erfolg und Misserfolg bestimmte Konsequenzen zu ziehen. Die spontane Leistungsbereitschaft resultiert aus der realistischen Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit; die Kinder wählen nun eher Aufgaben, die ihren Fähigkeiten entsprechen und dadurch Erfolg erwarten lassen (vgl. Schenk-Danzinger, 1987). Das persönliche Anspruchsniveau spielt auch bei der Kausalattribuierung eine Rolle; die Kinder führen ihren Erfolg bzw. Misserfolg auf bestimmte Ursachen zurück (Rollett, 1997). Manche Kinder bemühen sich mit großer Ausdauer, Aufgaben zu bewältigen; andere wiederum sichern sich vor Misserfolgen ab, indem sie auf einem leicht erreichbaren Anspruchsniveau verharren. Die Frustrationstoleranz gegenüber Misserfolgen nimmt langsam zu.
Das Anspruchsniveau ist in engem Zusammenhang mit der Leistungsmotivation zu sehen. Erst die Fünf- und Sechsjährigen beziehen die Ziele auf ihre vorhergegangenen Leistungserfolge, das heißt sie können aus ihren bisherigen Erfahrungen Folgerungen für die Zukunft ableiten. Die Leistungsmotivation mit Anspruchsniveaubildung ist erst bei Übergang zum Schulalter voll entwickelt; das motivierte Verhalten der Kinder enthält nun gleichzeitig Werthaltung (Bedeutung des angestrebten Ziels), emotionale Komponente (Furcht vor Misserfolg, Hoffnung auf Erfolg) und kognitive Bezugnahme (auf Vergangenheit und Zukunft) (vgl. Schenk-Danzinger, 1987).

Das "schulbereite" Kind möchte neue kognitive Kompetenzen erwerben und Regeln entdecken, nach denen es die Fülle der bisherigen Erfahrungen zusammenfassen und verstehen kann. Auf der anderen Seite entsteht das Bedürfnis, an einer Gemeinschaft Gleichaltriger aktiv teilzunehmen; das Kind drängt zu regelhaften Gruppenordnungen. Sechs- bis siebenjährige Kinder sind zwar noch nicht fähig, das Gruppenleben selbst zu gestalten, aber sie wollen daran teilhaben, dazugehören und "Rollenträger" sein. Deshalb sind in der Schule die "Rollen" des Tafellöschers, Hefteausteilers und Blumengießers bei den Kindern sehr beliebt (vgl. Schenk-Danzinger, 1987).

Neben den sozialen Kompetenzen sollte das Kind auch einen bestimmten kognitiven Entwicklungsstand als Voraussetzung für die Schulfähigkeit erreicht haben; das Kind sollte einen gut entwickelten Wortschatz (etwa 2.500 Wörter), ein erstes Zahlenverständnis (Zählen bis etwa 10-20, Rechnen bis 5) und eine ausgebildete Graphomotorik (detailgetreues Zeichnen) aufweisen. Eine weitere wichtige Fähigkeit ist jene zur willkürlichen Aufmerksamkeit, deren Entwicklung stärker an das Alter gebunden ist als andere Bereiche wie etwa die Sprache oder das soziale Verhalten. Im Vorschulalter sind die Kinder nur zu einer interessensgeleiteten Konzentration fähig. In der Schule wird jedoch von ihnen erwartet, dass sie auch Aufgaben erledigen, die keinen Spielcharakter haben. Mit etwa sechs Jahren tritt erstmals der dem Ruherhythmus entsprechende Alpha-Rhythmus im Gehirn auf; durch diesen wird willkürliche Entspannung möglich. Konzentriertes Arbeiten und somit gute Leistungen erfordern die Fähigkeit, sich anspannen, aber auch gezielt entspannen zu können (vgl. Rollett, 1997).

Der Schuleintritt stellt für das Kind ein kritisches Lebensereignis dar; seine positive Bewältigung kann das weitere Lernverhalten beeinflussen (Rollett, 1997). Vom Schulkind wird verlangt, einige Stunden des Tages stillzusitzen und seinen starken Bewegungsdrang zu unterdrücken, ruhig zu sein und zuzuhören, sich an die gegebenen Situationen anzupassen und den Verlockungen zum Spielen zu widerstehen (Schenk-Danzinger, 1987).
Beim Kind vollzieht sich nun der Übergang vom globalen Erfassen optischer und akustischer Gestalten zum teilinhaltlichen Erfassen abstrakter Formen ohne Sinnbezug, zu denen auch Buchstaben und Wortbilder gehören; diese Gliederungsfähigkeit ist für das Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens von großer Bedeutung (Schenk-Danzinger, 1987). Für die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sind Lernprozesse im Rahmen einer Gruppe erforderlich, deren Aufbau aber auch mit einer Neustrukturierung des Gehirns einhergeht (Rollett, 1997).

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9. Literaturverzeichnis


Becker-Textor, I. (1998). Kreativität im Kindergarten. Anleitung zur kindgemäßen Intelligenzförderung im Kindergarten (8. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Herder.

Bröder, M. (1997). Das erste Jahr im Kindergarten. Anregungen und Hilfen für einen gelungenen Start (2. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Herder.

Bröder, M. & Hilbich, U. (1997). Das letzte Jahr im Kindergarten. Entwicklungsgerecht begleiten (3. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Herder.

Bürki, D. (1998). Vom Symbol- zum Rollenspiel. In B. Zollinger (Hrsg.), Kinder im Vorschulalter. Erkenntnisse, Beobachtungen und Ideen zur Welt der Drei- bis Siebenjährigen (S. 11-47). Bern: Haupt.

Krenz, A. & Rönnau, H. (1997). Entwicklung und Lernen im Kindergarten. Psychologische Aspekte und pädagogische Hinweise für die Praxis (7. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Herder.

Mathieu, S. (1998). Entwicklung und Abklärung des Sprachverständnisses. In B. Zollinger (Hrsg.), Kinder im Vorschulalter. Erkenntnisse, Beobachtungen und Ideen zur Welt der Drei- bis Siebenjährigen (S. 83-137). Bern: Haupt.

Mietzel, G. (1997). Wege in die Entwicklungspsychologie. Band 1: Kindheit und Jugend (3. Aufl.). Weinheim: Beltz – Psychologie Verlags Union.

Peter, U. (1998). Entwicklung sozial-kommunikativer Kompetenzen. In B. Zollinger (Hrsg.), Kinder im Vorschulalter. Erkenntnisse, Beobachtungen und Ideen zur Welt der Drei- bis Siebenjährigen (S. 49-82). Bern: Haupt.

Rollett, B. (1997). Lernen und Lehren. Eine Einführung in die Pädagogische Psychologie und ihre entwicklungspsychologischen Grundlagen (5. überarbeitete Aufl.). Wien: WUV Universitätsverlag.

Rossmann, P. (1996). Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters. Bern: Huber.

Schenk-Danzinger, L. (1987). Entwicklungspsychologie (19., unveränderte Aufl.). Wien: Österreichischer Bundesverlag.

Zollinger, B. (Hrsg.). (1998). Kinder im Vorschulalter. Erkenntnisse, Beobachtungen und Ideen zur Welt der Drei- bis Siebenjährigen. Bern: Haupt.

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